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Reisen

von Petra Stechele

Die Deutschen seien darin Weltmeister, kann man vielerorts hören. Humboldt hat es uns vorgemacht. Das Entdecker-Gen, das kürzlich die Wissenschaft in der DNA mancher Menschen gefunden hat, ein Teil der Deutschen hat es also geerbt. Sie besonders sind von Neugier getrieben, sie zieht es hinaus in die Welt. Unser Wohlstand ermöglichte es uns, aufzubrechen. Die Strukturen unserer Arbeitswelt ließen uns die Freizeit dafür.

Reisen ist ein Urtraum der Menschheit, ein Antrieb, die Welt zu erkunden, zu erforschen, seinen Erfahrungsraum auszudehnen, Grenzen auszuloten. Ein Antrieb, der die Zivilisation vorantreibt, die Menschen vom Tierreich abhebt. Homo sapiens, der, der weiß und wissen will. Der aber zunehmend auch erkennen sollte, wo seine Grenzen liegen und wann er seine Existenz und die seiner Mitmenschen in Gefahr bringt. Der, der mit seinem Wissen schöpferisch sein, der heilen kann, aber auch gefährden und zerstören. Der, dessen Gier aber zunehmend unsere Erde ausbeutet und „verbraucht“, auf Kosten der Nachwelt.

Reisen war ein Machtinstrument, von je her. Wer die Mittel hatte, der konnte seine Machtansprüche ausdehnen und in die Welt hinaustragen, der konnte erobern, Kolonien unterhalten und Handelswege ausbauen, der konnte damit Wirtschaftsmacht aufbauen. Abdalrachman Munif beschreibt in seinem Roman „Salzstädte“, wie die freien unabhängigen Beduinen durch die ölsuchenden Amerikaner langsam in den Bann der modernen Technik geraten und die lokalen Scheichs durch Einsatz moderner Medien erstmals überhaupt zu Machthabern werden, weil sie ihren Willen „broadcasten“ können, kundtun und versenden. Damit werden die Menschen zu Untertanen, zu Mitläufern und Gegnern, damit entstehen Politik und Machtausübung. Unfrieden kann weitergetragen werden. Aus einem Streit wird ein Krieg. Damit fallen sie dem Machtstreben des Westens anheim. Schon viel früher hatten die ersten Global Players weltweiten Handel betrieben. Die Welser hatten die ersten Sklavenmärkte in Coro in Südamerika begründet, ganze Gebiete entvölkert und Menschenhandel betrieben, um ihre Kolonie zu unterhalten. (J. Denzer, 2003)

Reisen, begonnen hatten sie mit mühsamen und abenteuerlichen Expeditionen auf den Rücken von Tieren oder in selbst gebauten Schiffen. Die ersten davon hatten Jahre in Anspruch genommen und viele Opfer gefordert. Menschen hatten sich dafür in Lebensgefahr begeben und oft auch mit ihrem Leben bezahlt. Opfer, die nicht gescheut wurden, wir haben den Mond erreicht und sind ins Universum vorgedrungen. Doch die Reisen für jedermann, die sind es nun, die zunehmend in den Fokus der Kritik geraten, weil sie mehr als alles zuvor globalen Schaden anrichten. Reisen, die mit der Demokratie für fast jeden zugänglich wurden und dadurch zum Massenphänomen, wurden damit zu einem Problem.

Reisen ist Selbsterkenntnis. … „Reisen“ – sagt Andreas Altmann „[…] ist natürlich auch eine Reise in das eigene Herz.“ Immer erfährt man etwas über die Welt, über die Menschen und über sich selbst.

„Reisen ist wie Geschenke einsammeln.“ So sagt er. „Wer Glück hat, der geht jeden Tag – überhäuft damit – schlafen.“

„Reisen strengt an. Nie bleiben können, immer Abschied nehmen und Weggehen, das höhlt, das leert das Herz.“

Reisen bildet. Es öffnet uns für fremde Menschen und Kulturen, die wir nicht kennen und verstehen würden, wenn wir ihre Länder und Kontinente nicht bereist und über sie erfahren, gelesen oder Filme gesehen hätten. Es hat uns auch eine neue Empathie gegeben, weil wir erkennen, welche „Zumutungen anderen zugemutet werden“. Es gewährt uns aber auch „Einblicke in die eigenen Abgründe“ und Engstirnigkeiten.

„Reisen“, so sagt er auch „ist Flucht“ vor den „immer gleichen Bewegungen“, dem „gleichen Stumpfsinn des Überlebens“, „ein zweites Leben […] ein anderes, ein für die Plattheit des Alltags unerreichbares.“ Aber was bringt uns dazu, zu flüchten? Eben genau jene Arbeitswelt, der wir unseren Wohlstand einerseits verdanken, die uns aber zunehmend mit ihrem Leistungs- und Wachstumszwang, mit ihrem Drängen nach Überall-von-allem-immer-mehr-und–immer-schneller in zunehmende Unfreiheit und unerträgliche Zwänge stürzt und unser Leben zu Hause oft kein wirkliches Leben mehr sein lässt. Müssen wir also nicht zuerst unser tägliches Leben lebenswert einrichten, statt die Flucht zu ergreifen und dem Reisen damit den ihm gebührenden Stellenwert zuweisen?

Reisen ist ein Wirtschaftsfaktor. Ganze Landstriche, ganze Staaten leben davon, dass Touristen kommen. Wenn sie ausbleiben, ist das „Wirtschaftswachstum“ in Gefahr. Und die wenigsten können sich vorstellen, wie Wirtschaft ohne Wachstum aussehen kann. Das liegt aber nur daran, dass wir nicht gewohnt sind, anders zu denken. Wer in die Geschichte blickt, der weiß, dass all diese Dinge ihre Anfänge haben. Jahrtausende haben Menschen gelebt, ohne eine Ahnung vom Wirtschaftswachstum zu haben. Doch fraglos hat es dazu geführt, dass auch „kleine Leute“ reisen können. Doch genau das gerät jetzt in Gefahr. Mit der Krise, die sich als Weltkrise, als Umweltkrise präsentiert, wird das immer fragwürdiger und es muss zuerst eine „gerechtere“ Verteilung der Güter und des Wohlstandes stattfinden. Auch die Kritik am Reisen wurde erst dadurch möglich, dass wir selbst die Folgen unseres Tuns in anderen Ländern vor Augen haben. Wir haben auch in der Flüchtlingskrise ein Symptom dieser Weltkrise zu sehen, die wir selbst mitverursacht haben. Wenn in diesen Ländern die Lebensumstände unerträglich werden, nehmen die Menschen in ihrer Verzweiflung die lebensbedrohlichen Gefahren einer Flucht auf sich.

Reisen ist nötig. Viele Berufe sind auf Reisen angewiesen. Nachrichten aus aller Welt können uns nur in unabhängiger Form zukommen, wenn eigene Reporter in der Welt unterwegs sind. Firmen produzieren im Ausland, haben Zweigwerke in anderen Ländern eingerichtet. Wir sind gewohnt Produkte von überall her zu bekommen, Waren werden unzählige Male zwischen Kontinenten hin- und hergeschickt, bis sie ihr Endziel erreichen. Wissenschaft lebt vom Austausch: Studien, Spracherwerb und Ausbildungen werden teilweise im Ausland absolviert, um den Horizont zu erweitern, Austausch wird als wesentlicher Ausbildungsteil gesehen. Längst sind Familienmitglieder in alle Himmelsrichtungen verstreut und werden natürlich auch besucht. Die Globalisierung ist nicht umkehrbar. Sie hat uns längst alle erreicht.

Reisen ist Luxus. Im Herbst findet in Nürnberg eine Podiumsdiskussion statt, bei der es um nachhaltiges Reisen und um Qualität beim Reisen gehen soll. Aber was ist das eigentlich? Gibt es nachhaltiges Reisen. Einer der Teilnehmer ist der Meinung, dass es sich um Selbstbetrug handelt, denn Reisen wird nie nachhaltig sein. Das ist richtig, denn sobald Verkehrsmittel benutzt werden, kann davon nicht mehr gesprochen werden. Der Einsatz fossiler Brennstoffe als Energieträger ist nicht nachhaltig und auch die Hotels sind es nicht. Sobald wir nicht Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen, schädigen wir die Umwelt. Billigflüge aber gefährden unser Klima im besonderen Maß, weil Flugzeuge ihr Abgas in einer Höhe ausstoßen, die besonders klimarelevant und sensibel ist. Überall, wo in Massen verbraucht wird, entsteht ein Nachhaltigkeitsproblem. Überall, wo Menschenmassen in die Natur vordringen, leidet diese darunter. Überall, wo in Massen konsumiert wird, entstehen auch Schäden durch übermäßigen Ressourcenverbrauch und Müll. Ganz abgesehen davon, dass bei vielen Reisenden nicht einmal das Bewusstsein dafür vorhanden ist.

Das soll aber nicht besagen, dass man nicht die Schäden reduzieren kann, in dem man das umweltfreundlichste Verkehrsmittel wählt und Unterkünfte, die sorgsamer mit Material und Müll umgehen.

Reisen ist zu hinterfragen. Es muss sich gefallen lassen, dass besonders sorgfältig abzuwägen sein wird, ob der Nutzen einer Reise den Ressourcenaufwand und den verursachten Schaden in irgendeiner Weise rechtfertigen kann und auch wie diese zu reduzieren sind und Schäden ausgeglichen werden können.

Kürzlich las ich ein Interview mit dem Protagonisten des Films „Boyhood“, E. Coltrane. Er sagte nun, nach dem Ende des Films wisse er noch nicht, was er werden wolle, denn: „Warum soll ich jetzt ein Leben aufbauen, von dem ich weiß, dass es in zehn Jahren so nicht mehr zu leben ist.“

Der Satz klingt deprimierend, entspricht aber wohl eher einer gewissen Nachdenklichkeit. Coltrane geht vielmehr davon aus, dass unsere Kultur so, wie sie sich derzeit darstellt, ein Auslaufmodell sein wird und sich etwas Neues auftut, „er möchte nicht Teil eines Problems sein, sondern nach Lösungen suchen“. Wir kennen noch nicht die Antworten, aber immerhin die Fragen. „Ich will lernen, ein Mensch zu sein.“ so sagt er.