Krisen

Verzichten wir doch mal auf Trägheit
Weihnachtsgrüße
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von Petra Stechele

Das Wort ist aus unseren Medien inzwischen nicht mehr wegzudenken. Doch gerade das sollte zu denken geben. Denn eine Krise bezeichnet eine Ausnahmesituation, genauer: Eine Entscheidungssituation, einen Höhe- bzw. Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung (Duden).

ÖLKRISE FINANZKRISE WIRTSCHAFTSKRISE GRIECHENLANDKRISE BANKENKRISE FLÜCHTLINGSKRISE …

Doch wie bereits Horst Köhler in seinem ZEIT-Artikel ausgeführt hat (siehe Brief an die Kanzlerin), sind dies keine wirklichen Krisen, sondern Symptome. Symptome dafür, dass unser Wirtschaftssystem überholt ist und sich nicht an die veränderten Gegebenheiten der Welt angepasst hat. Es funktioniert so nicht mehr. Es lässt zu große Ungerechtigkeit entstehen. Es schließt zu viele Gesellschaften vom Wohlstand aus und ist längst zu einer Herrschaft des weltweiten Großkapitals geworden, das den Regierenden die Macht aus der Hand genommen hat. Zuallererst, weil Regierungen nichts mehr fürchten als Stagnation. Wirtschaftliches Wachstum gilt in diesen Kreisen nach wie vor als Garant für Wohlstand. Und die WählerInnen fürchten um ihre Arbeitsplätze und ihre Fähigkeit zum Dauerkonsum.

Wie bei körperlichen Erkrankungen ziehen wir meist vor, ein Medikament zu suchen, das schnell die Symptome zum Verschwinden bringt, ohne die wirkliche Krankheit zu heilen. Wir nehmen ein Schmerzmittel, achten nicht auf Risiken und Nebenwirkungen, wollen unser Verhalten nicht ändern, das zu der Krankheit geführt hat. Deshalb geschieht, was geschehen muss. Die Symptome kehren zurück, meist noch viel schlimmer als zuvor oder sie verlagern sich nur an eine andere Stelle auf ein anderes Organ und schwächen uns immer mehr.

So ist es auch mit der Welt. Die Regierenden sind erstaunlicherweise blind für das, was bereits seit vielen Jahrzehnten kein Geheimnis ist. Mit den immer gleichen Rezepten sollen die Krisen gelöst werden. Der Klimawandel, der durch technischen Fortschritt verursacht wurde, soll durch mehr technischen Fortschritt bekämpft werden. Die Ungleichheit in der Welt, die durch unser ungerechtes Wirtschaftssystem verursacht wurde, soll durch noch mehr Wirtschaftswachstum beseitigt werden. Das Bild von der steigenden Flut, die auch die Schwachen nach oben tragen soll, sitzt fest in den Köpfen. Dabei hat die Realität dieses Bild längst Lügen gestraft. Nein, sie stellen sich blind, weil sie, wie auch die Wirtschaftsmächtigen wissen, dass die Krankheit nur heilbar wäre, wenn wir unser Verhalten unser Wirtschaften ganz grundlegend verändern würden. Wenn wir uns ein „gesundes“, ein „verträgliches“ Verhalten angewöhnen würden. Das würde für manche darin bestehen, dass sie bestimmte Dinge nicht mehr wie gewohnt tun können, wie das auch bei Krankheiten der Fall ist. Es würde auch darin bestehen, dass man manche andere Dinge tun müsste, die bisher nicht nötig waren. Es würde auch bedeuten, dass man manchmal unsicher ist und erst ausprobieren muss, was denn nun das Richtige, das „weltgesunde“ Verhalten eigentlich ist, vorsichtig, nachdenklich, kritisch sein, hinterfragen und Fehler korrigieren.

Aber was „das Heilmittel“ denn sein könnte, das haben viele schon seit langer Zeit beschrieben. Es würde auf jeden Fall darin bestehen, dass wir versuchen müssten, nicht stets noch mehr Ressourcen zu verbrauchen, als uns im Verhältnis zu anderen Völkern dieser Erde zustehen.

Kürzlich war ich bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Terrorismus. Der Nahostkorrespondent, Jörg Armbruster, hat über die Entstehung des Terrorismus referiert und seine Beobachtungen geschildert. Miguel Berger vom Auswärtigen Amt sprach darüber, dass man mit Terroristen nicht verhandeln könne und deshalb militärische Lösungen die politischen ergänzen müssten. Vom Publikum wurde wiederholt auf die Punkte Perspektivlosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Chancenlosigkeit in diesen Ländern hingewiesen. Auch darauf, dass bereits durch westliches Eingreifen zahlreiche Staaten zerschlagen worden sind, in denen nun Terroristen und Terrorregime das Vakuum füllen. Waffenlieferungen wurden erwähnt, unsere Abhängigkeit vom Öl Saudi Arabiens, das wiederum zur Finanzierung und Unterstützung des Terrors dient. Aber der Diplomat ließ sich durch nichts von seiner Medizin, der Bombe, abbringen, also die Symptome zu kurieren. Am Ende sprach die Moderatorin von einem „antiwestlichen Narrativ“ (=Erzählung) zu dem ein „Gegennarrativ“ (=Gegenerzählung) gefunden werden müsste und fasste so die Meinung des Publikums mit auf. Aber dieser Punkt, der als einziger an die Ursachen des Problems ging, wurde nicht weiter angesprochen. Denn damit war die Veranstaltung zu Ende. Was bleibt, sind die Bomben auf Syrien, sind die Soldaten, die wir entsenden, die Flugzeuge, ein Kriegsschiff, um die Franzosen zu unterstützen bei einer Mission die völkerrechtlich noch gar kein Mandat hat.

Wenn man in die Bücher schaut, dann kann man bei A. Munif, Salzstädte oder Orhan Pamuk, Istanbul nachlesen, wie solche antiwestlichen Narrative entstanden sind. Ich erwähnte andernorts, wie einst freie Beduinen zu Untertanen von Emiren wurden, weil diese plötzlich durch die Ölquellen, die von den USA erschlossen wurden, zu Herrschaftsmacht kamen und damit eine Polarisierung der arabischen Bevölkerung entstand. Nach dem ersten Weltkrieg hat der Westen dort künstliche Staatengebilde errichtet,  wie Syrien und den Irak, die als Nachfolger ehemaliger Kolonien, Völker zusammenzwangen, die gar nicht zusammenpassten. In der Folge wurden die Sunniten von den Schiiten (zwei unterschiedliche islamische Glaubensrichtungen) unterdrückt. Jetzt bilden die Sunniten in ihrem Hass auf die Unterdrücker den Kern des IS. Orhan Pamuk beschreibt, wie er den Niedergang des Osmanischen Reiches erlebte, das einen Großraum des Mittelmeergebietes und der heutigen Krisenregionen einnahm. Er erkannte, „…dass wir unser „Herrendasein“ nicht in erster Linie unserem Besitztum zu verdanken hatten, sondern der Tatsache, dass wir modern und europäisch waren“, „verwestlicht“ wie „französische Bourgeois“. Er beschreibt den „mit Neid und Schuldgefühlen vermischten Wunsch nämlich, die letzten Spuren einer großen Kultur getilgt zu sehen, an deren Stelle wir unwürdigerweise ein billiges Abziehbild westlicher Zivilisation setzten.“ Der Franzose André Gide schrieb, „dass er die Türken verabscheue und spricht von der Überlegenheit der westlichen und insbesondere der französischen Zivilisation.“ Pamuk sagt dazu, „dass die Intellektuellen [Türken, Anm. d. Verf.] Gide insgeheim Recht gaben.“ Er fährt fort, „dass die militärischen und wirtschaftlichen Triumphe der westlichen Zivilisation, selbst eher kritisch veranlagte westliche Intellektuelle mit kaum verhohlenem Stolz erfüllen und dass auch sie davon überzeugt sind, der Westen sei das Maß aller Dinge.“„Ich bin genauso wie die Stadt ein lebender Toter, ein atmender Leichnam, ein armer Hund, der – wie Straßen und Gehsteige mich wissen lassen – zu Niederlage und Schmutz verurteilt ist.“ So beschreibt er seine Entfremdung, obwohl – oder weil er an einer amerikanischen Schule erzogen wurde. Wen wundert wenn andere lebende Tote zu Selbstmordattentätern werden?

Pamuk erzählt hier von der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Man sieht an diesem Beispiel, wie dieses Denken weiterging. Sieht den Abstieg der Länder, die eben nicht dem „Maß aller Dinge“ entsprechen konnten und wie dieses Empfinden sich ausbreitete und seine explosive Gewalt entfalten konnte, weil wir nichts unternommen haben, diese “antiwestliche Erzählung“ rechtzeitig zu erkennen, die hier entstand und ihr einen anderen Inhalt zu geben. Und auch jetzt sind wir dabei, wieder einmal die Geschichte nicht zu unseren Gunsten umzuschreiben.

Denn wenn wir das tun wollten, müssten wir erkennen, dass wir durch unseren verschwenderischen Lebensstil eine massive Ungleichheit in der Welt verursacht haben und unsere Güter häufig durch die Ausbeutung anderer produziert werden. Wir müssen erkennen, das Wohlstand nicht auf Kosten anderer entstehen kann. Und dass Wohlstand nicht bedeutet, ein zweites oder drittes Auto zu kaufen, jeden Tag Fleisch zu essen oder in Urlaub zu fliegen. Das sind nur die verzweifelte Versuche, uns von der Krankheit abzulenken. Wenn wir auf die Krisen, den Wendepunkten, nicht mit der Reduzierung unserer Ansprüche reagieren, entwickeln sie sich zu Katastrophen. Denn auch China und Indien wollen sich ihren Anteil holen und verschlimmern damit die Lage all der Völker, die über diese Möglichkeiten nicht verfügen. All diese Entwicklungen und Spannungen müssen sich in Verzweiflungstaten derer entladen, die sich jeder Chancen beraubt sehen und sich deshalb gegen unsere Kultur bewaffnet haben, oder gegen jene, die in ihren Ländern mit uns zusammenarbeiten wollen und die sich nun gezwungen sehen, ihre Länder fluchtartig zu verlassen.

Wir sollten also jetzt bedenken, wie unsere Geschichte einmal erzählt werden wird. Wir sollten uns nach Harald Welzer die Frage stellen: „Wie wollen wir einmal gelebt haben?“

Verzichten wir doch mal auf Trägheit
Weihnachtsgrüße

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